Freitag, 9. Oktober 2015

Leben als Gleitschirmflug

Quelle: en.wikipedia.org

"Hier haben wir Drei gestanden und ins Tal geblickt. Zwei Amerikaner auf Hochzeitsreise und die Schwester, die sich nach zwölf Jahren in München und Rom in die Berge zurückgezogen hatte. Hier hat Catherine ausgerufen, dies sei das Schönste, was sie je gesehen habe, definitely the highlight of our trip.

Es ist einer dieser klaren Frühlingstage in den Bergen, an denen die Schweizer Gipfel mit ihren Schneemützen ganz nahe heranrücken und die Illusion vermitteln, sie würden sich quasi um die Ecke befinden, nur eine Fünfminutenfahrt mit dem Wagen entfernt. Ich sitze auf demselben Stein, auf dem ich damals saß, als das auf ein volles langes Leben angelegte Glück dieser beiden Menschen zum Greifen nahe war, so trügerisch nahe wie die Schweizer Berge, und doch war es ein Glück, das man sehen und fühlen konnte. Nur Packen und Festhalten konnte man es eben nicht. Bis dass der Tod euch scheidet, hatte der Priester in der Trauzeremonie gesagt, aber wer denkt an den Tod, wenn er vor dem Altar steht, sie im weißen Kleid mit Schleppe, er im Smoking mit weißer Fliege.

Noch ist die Wiese winterfahl, die Kühe sind noch nicht auf der Alm, aber der Tag ist warm und leuchtet. Ich packe mein Picknick aus. Vom Nachbargipfel löst sich ein Gleitschirmflieger und surft auf einer Welle aus Luft, die ich nicht wahrnehme, die er aber finden muss, um nicht abzustürzen. Schwerelos schwebt er über dem Tal, er wird von dort oben einen herrlichen Rundblick haben, bis in die Schluchten zwischen die Schweizer Schneegipfel hinein. Welch Triumph über die Schwerkraft und welche Anmut, denke ich, und beides ist so gefährdet, denn der da oben reitet praktisch auf dem Nichts, dem großen unsichtbaren ungreifbaren Nichts.

Noch sind wir Drei nicht abgestürzt, Ted, Catherine und ich. Schon vor langer Zeit habe ich gelernt, auf der Luft zu reiten, und Ted und Catherine sind gerade dabei, es zu lernen: Leben als Gleitschirmflug. Sie kennen schon das atemnehmende Glück, das der Flug schenkt, wenn er gelingt. Allmählich wird ihnen klar, wie gefährdet dieser Flug schon immer war. Vielleicht wird es eine sanfte Landung für sie geben, vielleicht auch nicht.

Ich weiß, warum ich an diesen Platz zurückgekehrt bin.

Hier waren drei Menschen glücklich, und Glück vergeht nicht. Es ist aufgehoben in unserer Erinnerung. Da es, wie das Zen sagt, nur diesen Augenblick gibt, geschieht auch das Erinnern in diesem Augenblick. Und das, woran wir uns erinnern, ist hier und jetzt anwesend: Als Wirklichkeit, die etwas bewirkt.

Ich hole meine Kamera aus dem Rucksack. Ich werde Fotos machen von diesem Stein, der Weide und den Schweizer Bergen. Wenn ich sie nach Georgia maile, werde ich schreiben: Erinnerst du dich, Ted, dies ist der Platz, an dem du glücklich warst. Der Platz ist immer noch da. Schließ die Augen, dann findest du ihn.

Es hat diesen leuchtenden Nachmittag gegeben, und Ted war hier, ihn zu erleben. Wir müssen uns Erinnerungen schaffen, die Funken sprühen, sagte der Schriftsteller Kurt Tucholsky. Damit wir, sage ich, wenn wir eines fernen Tages zwischen weißen Laken liegen ohne die Möglichkeit, uns daraus wieder zu erheben, den Funken in uns wiederfinden."

(Aus: Margrit Irgang "Die Kostbarkeit des Augenblicks. Was der Tod für das Leben lehrt". Kreuz Verlag. ISBN 978-3-451-61303-4)
 
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