Mittwoch, 5. Oktober 2016

Dank an ein Kleid


Nun ist unsere gemeinsame Zeit also zu Ende. Sie hat immerhin zwanzig Jahre gedauert; das hätte ich nicht gedacht, als ich dich kaufte, damals, als ich mir dich eigentlich gar nicht leisten konnte. Du warst eben nicht von Hasi & Mausi und nicht aus irgendwelchen Kunstfasern, sondern aus reinem Leinen. Zweilagig. Unten weiches grobes Leinen, darüber ein Hauch von Leinengaze. Wenn ich dich trug, guckten die Leute, aus jeweils eigenen Gründen. Du warst lang, als alle anderen Kleider kurz waren. Ein Mann bezeichnete dich als "Kartoffelsack", und eine Stylistin, die mir im Fernsehstudio begegnete, attestierte dir "edle fließende Schlichtheit". Du hast polarisiert, obwohl du die Sanftheit selbst warst. Das wundert mich bis heute.

Wir haben viel miteinander erlebt. Das große Geburtstagsfest von W., als wir bis nach Mitternacht tanzten. Abendessen, Konzertbesuche. Und beim Gedenkgottesdienst für meinen Bruder in Georgia bei 35 Grad im Schatten ("Please don't wear black") kam deine lavendelblaue Kühle gerade recht.

Jetzt ist deine zarte Leinengaze voller Löcher, und dein Lavendelblau ist vom Schweiß rosa verfärbt. Ich brauchte zwei Jahre, um zuzugeben, dass wir uns trennen müssen. Im August trug ich dich ein letztes Mal, zum Einkaufen im Supermarkt um die Ecke. Kurz dachte ich daran, aus deinem Leinen noch etwas zu machen (man nennt das heute "upcycling"), aber ich brachte es nicht über mich. Du bist nicht als Geschirrtuch gedacht.

Du hast mich umhüllt, geschützt, erfreut und vielleicht, manchmal, ein wenig schöner gemacht. Heute werde ich dich in Plastik wickeln und in eine dieser Kleidertonnen tun. Wird dich irgendwo auf der Welt noch irgendjemand tragen wollen? Ich glaube es nicht. 

Vielleicht ist es mir auch lieber so.
 

1 Kommentar:

  1. Dein Brief ans geliebte Kleid geht mir zu Herzen. Ja, so ist das mit sehr lieb gewonnenen Sachen. Ich kann es sooo gut nachvollziehen. Ich bin auch kein Wegwerftyp und meinen Sachen lange treu!
    viele liebe Grüße von Ellen

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